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Zeitenwende für die Zivilgesellschaft

Veröffentlicht am 27.06.2022

Foto: Patricia Kalisch, www.patriciakalisch.de

Gleich in vierfacher Hinsicht war die 60. Mitgliederversammlung des Landesnetzwerks Bürgerengagement Berlin eine besondere: Erstens wegen der runden Zahl, zweitens, weil sie nach langer Zeit wieder in Präsenz stattfinden konnte, drittens, weil die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey anwesend war, und viertens, weil in der Diskussion zum Schwerpunktthema „Zeitenwende für die Zivilgesellschaft?“ viele kluge Gedanken geäußert wurden.

von Helmut Herold

 

Fotos: Patricia Kalisch, www.patriciakalisch.de

 

Die 60. Mitgliederversammlung des Landesnetzwerks Bürgerengagement Berlin am 15. Juni 2022 sollte nach dem Willen des Sprecher:innenrates eine besondere sein. Und das war sie auch, aus mehreren Gründen: Erstens wegen der runden Zahl 60, zweitens, weil sie nach langer Zeit wieder in Präsenz stattfinden konnte, was die meisten Teilnehmer:innen auch nutzten, drittens, weil die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey anwesend war, und viertens, weil in der Diskussion zum Schwerpunktthema „Zeitenwende für die Zivilgesellschaft?“ so viele kluge Gedanken geäußert wurden, dass man daraus auch einen spannenden Podcast hätte herstellen können.

Es herrschte eine gute Stimmung am Versammlungsort beim VdK Berlin-Brandenburg an der Linienstraße 131 in Mitte, die Franziska Giffey mit ihrem Grußwort weiter anheizte. Ehrenamtliche Arbeit trage dazu bei, „dass wir eine lebenswerte Stadt haben und die Demokratie stärken“, so die Regierende Bürgermeisterin. Dies gelte es zu verteidigen. Sie sei beeindruckt und stolz über das Engagement für die Flüchtlingshilfe. Zu den an diesem Tag stattgefundenen Verhandlungen über das Bündnis für Wohnen sagte sie, bezahlbares Wohnen sei auch eine Voraussetzung für bürgerschaftliches Engagement. Denn wen existenzielle Sorgen quälten, hätte den Kopf nicht frei, um sich zu engagieren.

Und dann wurde ausgiebig diskutiert zum Schwerpunktthema „Zeitenwende für die Zivilgesellschaft?“ Clemens Müller von der Unterkunft für geflüchtete Menschen aus der Ukraine des Unionhilfswerk in Friedrichshain schilderte, was sich in den ersten Stunden abspielte, nachdem entschieden war, in seiner Einrichtung Kriegsflüchtlinge unterzubringen: „Kaum war die Entscheidung gefallen, standen schon die ersten Freiwilligen vor der Tür.“ Bis in die Morgenstunden habe man 300 Schlafplätze vorbereitet. Das sei eine tolle Erfahrung gewesen. Allerdings sei die Zusammenarbeit mit 300 bis 500 neuen Ehrenamtlichen nur mit Unterstützung durch das Freiwilligenmanagement-Team zu bewältigen gewesen.

Klaus-Peter Licht von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales verglich die heutige Situation mit 2015, als Deutschland die Grenzen für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien öffnete. Auch damals sei er im Berliner Krisenstab tätig gewesen. „Es läuft heute besser als 2015“, so Licht. Es sei inzwischen viel investiert worden in Freiwilligenagenturen, Flüchtlingskomitees und Netzwerke. Der Kontakt zu den Initiativen der Helfenden sei besser, diese seien bei allen Lagebesprechungen dabei. Seiner Meinung nach brauchten die spontanen neuen Strukturen aber nach gewisser Zeit Hilfe. Er stellte die spannende Frage in den Raum, ob es so etwas wie Krisenstrukturen für die Freiwilligenkoordination geben sollte. Wie können Spontanität und das Knowhow der Freiwilligenkoordination zusammengeführt werden? Klaus-Peter Licht wies außerdem darauf hin, dass traditionelle Hilfsorganisationen wie DRK und THW ebenfalls weiterhin Freiwillige suchten.

Das war wohl das Stichwort für Katja Brendel, Landeskoordinatorin wellcome Berlin: Warum sei es so schwer, eine Brücke zwischen spontanem Engagement und bestehenden Ehrenamt zu schlagen? „Nur weil es eine Krise gibt, geben wir unsere eigentliche Arbeit doch nicht auf“, so Katja Brendel. Auch sie hält Strukturen für notwendig, mit denen man auf Krisen schnell und wirksam reagieren könne. Denn, so eine weitere Wortmeldung, Engagement sei nicht grenzenlos. Weder von der Kraft noch von der Zeit der Freiwilligen. Dies bestätigte auch Clemens Müller: „Die ersten vier Wochen wurden wir überrannt und mussten Leute wieder nach Hause schicken.“ Dies sein inzwischen nicht mehr so.

Susanna Kahlefeld, stellvertretende Vorsitzendes des Ausschusses für Bürgerschaftliches Engagement, Bundesangelegenheiten und Medien des Abgeordnetenhauses, konnte mit ihren Ausführungen auf einen Teil der Fragen erste Antworten geben: „Die politisch Handelnden müssen verstehen, was Ehrenamt ist.“ Wenn irgendwo ein Mangel erkannt werde, würden Menschen etwas dagegen tun. Diese Initiative gehe nicht von der Politik aus. Aufgabe der Politik sei es, Strukturen und Material bereitzustellen, „damit die Menschen ihr Gemeinwesen gestalten können, so wie sie es für richtig halten; temporär oder dauerhaft“. Auch die Verwaltung gehöre zu den Strukturen, die die Politik bereitstellen müsse. Aufgabe der Verwaltung sei es zu sehen, was konkret benötigt werde. Zum Beispiel das Landesnetzwerk Bürgerengagement Berlin besser zu unterstützen. Sie habe das Gefühl, so Susanna Kahlefeld, „dass wir an vielen Stellen schon viel weiter gekommen sind“. Berlin habe jetzt eine Engagementstrategie. Nun müsse geklärt werden, um welche der 100 Handlungsempfehlungen der Strategie sich die Bezirke kümmern und um welche der Senat. Außerdem brauche Berlin ein Demokratiefördergesetz.

Freiwillig engagierte Menschen dürfe man auf keinen Fall bevormunden, teilte Christine Fidancan, Leiterin des Ehrenamtsbüros Tempelhof-Schöneberg, ihre Erfahrungen mit. Stattdessen gehe es darum herauszufinden, wo sie Unterstützung benötigen, und dann als Verwaltung Hilfe anzubieten. „Das Wichtigste ist und bleibt der Dialog“, so Christine Fidancan. Und zwar nicht auf Augenhöhe, sondern als echte Partner.

Fazit: Corona und die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine haben die Bedingungen für bürgerschaftliches Engagement erheblich verändert und damit zu einer spürbaren Zeitenwende geführt. Viel Beispielhaftes wurde geleistet, um die neuen Herausforderungen zu meistern. Doch es gibt noch offenen Fragen. Bei der Suche nach Antworten hat die 60. Mitgliederversammlung des Landesnetzwerkes durchweg einen guten Job gemacht. Getreu dem Jahresmotto „Werte.Gemeinschaft.Sein“.

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LANDESNETZERK BÜRGERENGAGEMENT BERLIN – Blogbeitrag von Helmut Herold
zuletzt überarbeitet 27.06.2022

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