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Geschichten von der Nachtschicht am Silbertelefon

Veröffentlicht am 01.03.2022

Foto: Anna Moll

Persönliche Schicksale, Kummer, Leid und immer auch Einsamkeit lassen Menschen zum Telefon greifen, um bei Silbernetz e.V. über ihre Situation zu sprechen. Dort trefen sie auf verständnisvolle Zuhörer:innen.

Worüber in solchen Nachtschichten gesprochen wird, schildert Eveline Harder

 

Am 24. Dezember 2018 höre ich vor meinem Arbeitsbeginn ein Trompetenkonzert in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Anschließend mache ich einen Spaziergang über den leeren Weihnachtmarkt und gehe dann zum Bahnhof Zoo, um in Richtung Potsdamer Platz zu fahren. Der riesige Umsteigebahnhof, von dem ich weiter zur Wollankstraße Richtung Silbernetz fahre, ist um 23 Uhr menschenleer, fast gespenstisch. An der Friedrichstaße steigen einige Männergruppen dazu, der Rest der Stadt ist zu Hause.

Um Mitternacht beginnt meine Schicht am Silbertelelefon. Bis 6 Uhr morgens bin ich für die Menschen da, die sich in der Heiligen Nacht einsam fühlen. Mein allererstes Gespräch kommt von einem Mann in Bayern, der nach dem Tode seiner Frau das Fest zum allerersten Mal allein begeht. Keine Verwandtschaft, kein Freundeskreis ist mehr vorhanden. Verzweifelt sitzt er mit einer Flasche da, leicht angetrunken und weint. Ihm Mut zuzusprechen und auf die Kontaktmöglichkeiten in seiner Gemeinde hinzuweisen, ist dann die Aufgabe. Die Flut von Gesprächen beginnt meist nach 2 Uhr. Entweder wachen die Menschen dann auf oder die Flasche ist leer oder zu diesem Zeitpunkt kocht die Vergangenheit hoch, und sie können nicht schlafen.

Gerade zu den Festtagen tritt die Einsamkeit besonders zutage. Verlassenheit in der Familie, die Kinder haben sich zurückgezogen und meiden den Kontakt mit der Mutter sowie Schuldzuweisungen jeglicher Art sind oft zu hören. Verzweiflung, Tränen und Mutlosigkeit sind die Folgen.

Eine Frau bittet mich, mit ihr das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Danach erzähle ich ihr, dass ich mehrmals im Jahr zu Exerzitien ins Kloster gehe, um mich zu erden. Sie fragt mich, ob ich ihr ein Kloster in Norddeutschland heraussuchen könne, da sie kein Internet habe. Mehrere Angebote kann ich ihr nennen. Dann fragt sie, ob wir das Vaterunser beten könnten. Anschließend bedankt sie sich für die Möglichkeit, zu so später Stunde mit einem Menschen zu sprechen.

Ein berenteter Gastarbeiter klagt mir sein Leid, dass seine Tochter sich von ihm zurückgezogen habe, weil er sich aufgrund einer Diagnose nicht operieren lassen wolle. Wir beide erörtern das Thema nach allen Gesichtspunkten und plötzlich ist unsere Gesprächszeit von zwanzig Minuten fast vorbei. „Moment“, sagt er, „bitte warten Sie. Ich hole meine Gitarre, und singe Ihnen dann ein eigens von mir komponiertes Lied vor.“ Gesagt, getan. Es beginnt mit den Worten „Susi, komm bitte zurück …“. Darüber bin ich sehr gerührt und bedanke mich aufrichtig dafür.

Dies ist eine sehr persönliche Sicht auf zahlreiche Nachtschichten, die ich seit 2018 übernommen habe. Trotz all der gehörten Misslichkeiten des Lebens ist dies eine sinnvolle und befriedigende Aufgabe. Der Dank der Anrufer:innen ist groß. Ich war selbst einsam und habe bei Silbernetz mein Ohr zur Verfügung gestellt, um den Menschen zuzuhören. Ihnen das Gefühl zu geben, gehört zu werden und Verständnis für die geschilderte Situation zu finden.

Der Telefondienst hat sich wegen der Pandemie völlig verändert. Durch die Arbeit im Home-Office gibt es nach der Nachtschicht keine Rückfahrt mehr mit dem öffentlichen Nahverkehr.

Der Hörer wird um 6 Uhr aufgelegt und ich könnte schlafen gehen. Um den Kopf wieder freizubekommen, unternehme ich stattdessen einen Spaziergang oder höre noch zwei Stunden Musik und lese, um mich in andere Welten zu versetzen.

Silbernetz e.V. wurde 2016 als gemeinnütziger Verein gegründet und bietet seit September 2018 das Silbertelefon für Menschen ab 60 Jahren mit Einsamkeitsgefühlen zum „einfach mal reden“ an. Täglich erreichbar von 8 bis 22 Uhr und zu Weihnachten zwischen Heiligabend und Neujahr rund um die Uhr. Die Telefonnummer lautet 0800 4 70 80 90. Mehr Informationen gibt es auf www.silbernetz.org.

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LANDESNETZERK BÜRGERENGAGEMENT BERLIN – Blogbeitrag
zuletzt überarbeitet 08.03.2022

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