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Einsatz gegen das Schweigen im Bezirksamt

Veröffentlicht am 07.02.2022

Foto SW

Wie drei Anwohner:innen um verbindliche Bürgerbeteiligung kämpfen

Als sich ein Spitzenpolitiker vor drei Jahren vor laufenden Kameras verplapperte, Politik sei eine Sache für Profis, sprach er aus, was so manche:r in der Politik denkt. Wie aber allein drei Leute aus einem Berliner Kiez auf ihre politisch wichtige Vorort-Expertise beharren und bezirkliche Prozesse in Bewegung bringen können, das beweist die Initiative Bürger:innenbeteiligung Lichterfelde Ost.

Steglitz-Zehlendorf gilt als wohlhabend. Hier ist Berlin – mit einem Durchschnittsalter von 46,4 Jahren – am ältesten. Über einem Drittel des Bezirks erstrecken sich Wald und Gewässer. Das Leben läuft etwas beschaulicher und die Politik brauchte vermutlich weniger mit der Kontrolle oder Einflussnahme durch die Bürgerschaft rechnen.

von Sabine Walther

 

 

Liebe zum Kiez entfaltet Kräfte –  und deckt strukturelle Missstände auf

Bis 2019 konnten die Bewohner:innen des Kranoldkiezes zu Füßen des S-Bahnhofs Lichterfelde Ost ihren Lebensfreuden und Feinschmeckergelüsten im und um den 100-jährigen Ferdinandmarkt frönen: Hier gab es im Holzofen gebackenes Brot, frisch gezapftes Spreewald-Leinöl, hausgemachte Marmeladen, Spezialitäten einer Landkäserei, regionales Obst und Gemüse – ein buntes Marktreiben eben. Nun hat das Areal einen neuen Besitzer, der Entmietung anstrebt, um großflächigem Gewerbe den Vorzug vor den alteingesessenen kleinen Läden zu geben. Die Bürger:innen protestierten, gründeten im Februar 2020 den Kranoldkiez-Lichterfelde e.V., konnten aber die Schließung des Ferdinandmarktes im September 2020 nicht mehr aufhalten. Deutlich wurde, das Bezirksamt kümmerte der Erhalt städtebaulicher Eigenart zu wenig und noch viel weniger sah es die Notwendigkeit, die Einwohnerschaft in städtebauliche Prozesse einzubinden.

Beteiligung werde vom Bezirksamt schlicht nicht gewollt

Die aufmerksam gewordenen Bürger:innen stellten fest, in ganz Berlin bilden sich Möglichkeiten der Bürger:innenbeteiligung heraus, nur der Bezirk Steglitz-Zehlendorf scheint diese Entwicklungen zu verschlafen. Wenige Monate später sollte sich diese Feststellung auch in Zahlen materialisieren: Das hiesige Bezirksamt verzichtete auf inzwischen 500.000 Euro, die der Senat seit 2020 mit 250.000 Euro jährlich jedem Bezirk für den Ausbau einer Beteiligungs-Infrastruktur bereitstellt, wie etwa bezirkliche Anlaufstellen für Bürger:innenbeteiligung. Dem vorausgegangen waren die zwischen 2017 bis 2019 von Bürger:innen, der Verwaltung und der Politik erarbeiteten „Leitlinien für Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Projekten und Prozessen der räumlichen Stadtentwicklung“. Die Bezirksbürgermeisterin Cerstin Richter-Kotowski (CDU, bis Dezember 2021 im Amt) erklärte dann im November 2021, „pandemiebedingt fanden keine Bürgerbeteiligungen in Präsenz statt … Somit gab es keinen Anlass die Gelder zu verwenden“. Gelder, die aber von neun anderen Bezirken abgerufen und sinnvoll eingesetzt wurden!

Anwohner:innen sind die Experten im Kiez

Dorit Grieser, Sabine Moser und Stephan Voß sind die drei Nachbar:innen aus dem Kranoldkiez, die es dabei nicht belassen wollten. Im Frühjahr 2021 riefen sie die parteipolitisch unabhängige Bürger:inneninitiative Lichterfelde Ost ins Leben, um endlich auch in Steglitz-Zehlendorf feste Strukturen für verbindliche Bürgerbeteiligung zu bewirken. „Wir haben viele Kompetenzen, die wir zum Wohl unseres Gemeinwesens nutzen können“, heißt es in ihrem Aufruf. Die wesentlichen Forderungen der Initiative lauten:

  • Beteiligung soll im Bezirk strukturell verankert, umfassend gefördert und professionell umgesetzt werden,
  • dafür sollen die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden,
  • Verwaltungsabläufe und -handeln im Kontext von Planung, Gestaltung und Umsetzung von Beteiligung sind klar zu regeln,
  • dafür sind Leitlinien als ein gemeinsames Projekt der Bürgerschaft, der Politik und der Verwaltung im Bezirk Steglitz-Zehlendorf zu entwickeln,
  • dabei sollen Bürgerinnen und Bürger frühzeitig und transparent über Vorhaben des Bezirks informiert werden,
  • Beteiligungsprozesse sollen die Beteiligungsstufen „Information“, „Mitwirkung“, „Mitentscheidung“ und „Entscheidung“ umfassen, soweit nicht rechtliche Bestimmungen dem entgegenstehen und
  • es soll eine in jeder Hinsicht angemessen ausgestattete Koordinierungsstelle für Bürger:innenbeteiligung in der Verwaltung geschaffen werden, die zugleich Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger ist.

Vorstoß von unten: Direkte Demokratie per Einwohnerantrag

Im Einwohnerantrag fanden Dorit Grieser, Sabine Moser und Stephan Voß das probate Mittel, um die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) dazu zu bringen, sich ihrer Forderung anzunehmen. Ein solcher Antrag muss von 1000 wahlberechtigten Einwohner:innen des Bezirkes per Unterschrift unterstützt werden. Ab April 2021 sammelten die drei Nachbar:innen nun vor allem auf Wochenmärkten Unterschriften. Sie informierten die Presse und konnten zahlreiche regionale Buchläden zur Unterstützung (Auslage oder Annahme von Unterschriftenlisten) gewinnen, die während des Lockdowns im Frühjahr 2021 geöffnet bleiben durften. Bis zum November konnten sie 1623 Unterschriften sammeln und übergaben am 9. Dezember 2021 dem BVV-Vorsteher René Rögner-Francke (CDU) ihren Einwohnerantrag „Beteiligung stärkt die Demokratie und fördert gemeinnütziges Engagement – auch in Steglitz-Zehlendorf“. Inzwischen hat das Bezirksamt der Initiative mitgeteilt, dass das notwendige Quorum mit insgesamt 1423 gültigen Stimmen erreicht ist und der Antrag in der BVV behandelt werden kann. Die Initiatoren dürfen ganz sicher darauf setzen, in der neu gewählten Bezirksverordnetenversammlung mit der ersten grünen Bürgermeisterin im Bezirk, auf offene Ohren und Umsetzungsbereitschaft zu treffen.

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LANDESNETZERK BÜRGERENGAGEMENT BERLIN – Blogbeitrag von Sabine Walther
zuletzt überarbeitet 07.02.2022

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