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Das Theaterensemble PAPILLONS präsentierte ihr neues Stück

Veröffentlicht am 23.08.2022

„In der Sprache erfinde ich mich immer wieder neu.“ (1)

von Sabine Walter

 

 

Das Theaterensemble PAPILLONS gibt insbesondere Menschen mit Demenz eine Stimme. Witzig und weise melden sie sich in „SCHATTEN SAMMELN“ zu Wort. Diese poetisch-musikalische Lesung ist eine weitere Inszenierung der Theaterleiterin Christine Vogt im Pflegewohnheim „Am Kreuzberg“ des Unionhilfswerks Berlin. 

Das Panel der Lesenden ist eine lange Tafel: Weiße Tischdecken, Glaskelche und einzelne Porzellanfiguren. Die neun Vortragenden nehmen Platz, es wird eingeschenkt – natürlich Wasser. Vom Tonband erklingt der Gesang einer älteren Dame „Röslein, Röslein, Röslein rot“. Es ist die im Februar verstorbene Maria Langgärtner. Ihr Lachen schallt durch den Saal und eröffnet den Abend.

Reihum tragen die Lesenden ihre ersten Zeilen vor. Es sind Überlegungen, die dem Satzanfang „Bevor ich den Löffel abgebe …“ folgen. „… möchte ich Bäume malen, Linsensuppe schlürfen, schreibe ich ein Gedicht für Eure Regung.“ (2) Darunter schon die ersten Witzeleien, wie das im Sprachbild bleibende „Meine Lieben sollen die Suppe auslöffeln, die ich gekocht habe.“ (3) Die Zuhörenden lachen und verstehen, hier werden sie Zutritt zu einer sonst vielleicht verschlossenen oder sich fragmentarisch überlagernden Gedankenwelt bekommen.

 

„Das Unsagbare zu Worte bringen“
So bestimmt Theaterregisseurin Christine Vogt in einer Zwischenmoderation die Poesie an diesem Abend. Ihr Kunstgriff sind die zahlreichen Stichworte, mit denen sie ihr Ensemble in jeweils abgesteckten Gedankenräumen zum Texten und Reimen anregte: „Aus meiner Vogelperspektive sehe ich …“, „Die Liebe wohnt …“, „Die Angst kriecht“. Inspiriert wurde Christine Vogt durch die Heimbewohnerin Aldona Holmsten (geb. Gustas). In Litauen geboren, war sie zeitlebens literarisch sowie malerisch tätig und gründete 1972 die Künstlergruppe „Berliner Malerpoeten“. In ihrer Wahlheimat Deutschland traf sie dabei u.a. auf Künstler wie Kurt Mühlenhaupt oder Günter Grass. Bis heute stöbert sie in Büchern, liest und rezitiert. Es sind genau diese Gedichtanfänge, die hier den roten Faden vorgeben. Am Theaterabend sitzt sie in der ersten Reihe, die künstlerische Atmosphäre ist ihr sichtlich vertraut und eine Freude. Fast scheint es, als dirigiere sie mit ihren Gesten den Wohlklang der Vorträge.

In der Zwischenzeit prosten sich vorne alle zu, es wird angestoßen und getrunken! Eine Inszenierungsidee? Ja, das Ensemble sollte sich und seine Texte feiern. Bevor es weitergeht, wird aus dem Wasserkrug nachgeschenkt. Das Publikum schaut der Szene zu.

 

„Meine Gedichte sind Umhüllungen vom inneren Leben“ (4)
Wieder und wieder lesen die Vortragenden ihre Zeilen – zuweilen in sowohl ganz einfachen wie zugleich erkenntnistiefen Sätzen: „Im Gedicht schreibe ich über etwas, was ich noch gar nicht weiß.“ (5). Oder in schönsten Sprachbildern: „Wenn Kiefern rauschen, sind sie in ein Gedicht gefallen.“ (6) Oder herrlich witzig: „Mein Lieblingswort ist ‚Scheiße‘ – ich steige aus dem Auto und trete in mein Lieblingswort“ (7). „Ärgerlich bin ich, dass ich vergesslich bin, meine Brille suche und die Nase verfluche, auf der sie sitzt.“ (8) Auch die Zeilen von Maria Langgärtner sind dabei – sie bringt der Schauspieler Michael Hanemann, bekannt aus Film und TV, zu Gehör.

Wenn Christine Vogt den Akteur:innen das Mikrofon in die Hand gibt, wissen sie, das nächste Blatt auf dem Tisch vor ihnen soll nun gelesen werden. Anschließend heftet die im Hintergrund assistierende Claudia Blaich die bunten handgeschriebenen Textblätter an die Wand zu einer mehr und mehr anwachsenden Wortwolke über den Köpfen. Und in den Köpfen können die Worte während der kurzen Viola-Stücke, komponiert und vorgetragen von Mike Flemming, nachklingen. Die Kompositionen scheinen mit ihren mal zarten, mal kräftigen Bogenzügen in einen Dialog mit dem Gesagten und Gedachten zu treten. Poesie in Noten.

 

„Wir erzählen bis ans Ende unserer Tage in Rot“ (9)

Wenn die Akteurin Heiderose Neumann an der Mundharmonika „Röslein, Röslein, Röslein rot“ spielt, geht der Abend zu Ende. Das Publikum ist berührt und dankbar. Sicher möchte so manche:r am liebsten ein kleines Gedichtbändchen mit all diesen Versen voller Leben mitnehmen. „Im Schatten liebe ich das Licht doppelt und dreifach“ (10) – das Ensemble PAPILLONS will das Leben ausschöpfen: „Bevor ich den Löffel abgebe, möchte ich, dass der Teller leer ist.“ (11)

Christine Vogt erarbeitete mit dem Ensemble seit 2016 bereits mehrere Projekte: das Musiktheater HERZTÖNE, das Filmprojekt INNEN LEBEN und den 3-teiligen Podcast STILLLEBEN. Alle Produktionen entstehen in Trägerschaft der Stiftung Unionhilfswerk Berlin. Die Regisseurin für Inklusives Theater gründete 1990 das Theater Thikwà für Menschen mit und ohne Behinderung und arbeitet nun auch als Betreuungsassistentin im Pflegewohnheim „Am Kreuzberg“ des Unionhilfswerks. Am Abend bedankt sie sich ausdrücklich für alle Hilfe und Unterstützung, die sie für ihre Arbeit von der Stiftung Unionhilfswerk Berlin, der Leitung und dem Pflege- und Betreuungsteam des Pflegewohnheims erhält.

(1, 6, 9,10 : Aldona Holmsten,  2, 4: Udo Thiel, 3, 5, 7: Heiderose Neumann, 8: Elvira Werthmüller, 11: Ella Kuntzke)

Text: Sabine Walther, Fotos: Christa Mayer, Sabine Walter

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LANDESNETZERK BÜRGERENGAGEMENT BERLIN – Blogbeitrag von Sabine Walter
zuletzt überarbeitet 23.08.2022

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