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Wie ich aus der Obdachlosigkeit zurück ins Leben gefunden habe

Veröffentlicht am 30.06.2025

Foto: LNBE

Fast zwei Jahrzehnte lebte Janet ohne eigene Wohnung, sechs Jahre davon ganz auf der Straße – immer begleitet von Sucht, Gewalt und Ausgrenzung. Heute führt Janet Stadtführungen durch Berlin und erzählt von dem Leben, das viele lieber übersehen. In diesem Interview spricht sie offen über ihre Kindheit, den Absturz in die Drogensucht, ihre Erfahrungen als obdachlose Frau – und darüber, wie sie Schritt für Schritt zurück ins Leben gefunden hat.

Magst du dich einmal kurz vorstellen – wo kommst du her und wie war dein Leben, bevor du auf der Straße gelandet bist?

Ich bin 47 und war fast 20 Jahre wohnungslos – davon sechs Jahre richtig obdachlos. Ich hab in vielen Städten gelebt: Hamburg, Lüneburg, Bonn, München, Koblenz und jetzt Berlin. Geboren bin ich in Hamburg. Nach der Schule hab ich eine Ausbildung zur Dekorateurin gemacht und bin dann nach München gezogen. Aber es ging mir schon lange psychisch nicht gut. Ich bin Scheidungskind, und in meiner Familie wurde vieles einfach unter den Teppich gekehrt.

Wann hast du gemerkt, dass du anfängst, in die Sucht abzurutschen?

Mit 14 hab ich angefangen zu trinken, später kamen Drogen dazu – Gras, Speed, Kokain, irgendwann Heroin. Das war 20 Jahre lang mein Alltag. Heute bin ich clean – seit sechs, sieben Jahren, ich zähl das nicht mehr so genau. Ich hab mehrere Therapien gemacht, stationär, ambulant, Psychotherapie – immer wieder versucht, irgendwie wieder klarzukommen.

Und wie bist du dann obdachlos geworden? Gab’s einen Auslöser?

Da gab’s viele Gründe. Einer war häusliche Gewalt. Mein Ex hat mich geschlagen, einmal sogar versucht, mich zu erwürgen. Trotzdem hat er es vor der Polizei immer so dargestellt, als wäre ich die Gewalttätige. Ich war zwar in unserer Wohnung gemeldet, aber die Wohnungsbaugenossenschaft hatte vergessen, mich im Mietvertrag anzugeben. Das führte dazu, dass ich irgendwann nicht mehr in die Wohnung durfte. Irgendwann hab ich nicht mehr gesehen, wer Freund ist und wer Feind. Und so bin ich auf der Straße gelandet. Aber ehrlich – mein ganzes Leben drehte sich damals nur um die Sucht. Die Sucht macht dich gleichgültig – das war vielleicht das Schlimmste. Ich war da, aber eigentlich auch nicht mehr richtig.

Wie war dein Verhältnis zur Familie?

Sehr brüchig. Ich hab kaum noch Kontakt – nur zu meiner Tante und ab und zu zu meiner Mutter. Meine Adoptivmutter lehnt den Kontakt komplett ab. Für sie bin ich „nur der Junkie“. Das tut weh.

Wie sah dein Alltag als obdachlose Frau in Berlin aus?

Das kam ganz darauf an, was ich gemacht hab. In der Zeit, in der ich mich prostituiert habe, hatte ich so etwas wie eine Routine – meinen Platz auf dem Strich, manchmal auch Hotels. Danach hab ich mir Stoff besorgt – und dabei ständig aufgepasst, nicht von der Polizei erwischt zu werden. Konsumiert hab ich irgendwo draußen, dann ging’s wieder zurück auf den Strich. Heroin und Koks waren meine Zuhälter. Kein Mann hat mich gezwungen. Es waren die Substanzen, die mich so im Griff hatten, dass ich da nicht mehr rausgefunden hab.

Hygiene ist ein großes Thema in der Obdachlosigkeit. Wie bist du damit umgegangen?

Hygiene ist auf der Straße ein riesiges Problem – vor allem für Frauen. Klar, es gibt Stellen zum Duschen, aber oft nur mit Termin oder stundenlangem Warten. In Bonn hatte ich Freunde, bei denen ich mal duschen konnte, ohne etwas „leisten“ zu müssen. In Berlin ist mir das selten passiert – da bot mir mal jemand Duschen und Schlafen an und wollte dann doch was ganz anderes. Das passiert leider viel zu oft. Während des Corona-Lockdowns war es besonders schlimm. Ich bekam meine Tage und musste stundenlang durch Berlin fahren, um eine offene Toilette zu finden. Es braucht dringend mehr kostenlose, sichere und saubere Toiletten für Frauen.

Gab es Versuche, aus der Obdachlosigkeit herauszukommen?

Ja, klar. Aber das klappt nicht einfach so. Es kommt darauf an, wo du landest. Wohnheim ist nicht gleich Wohnheim. Ob du ein Einzelzimmer bekommst oder mit jemandem zusammenwohnst, der noch konsumiert – das macht einen riesigen Unterschied. Und ob du Menschen um dich hast, die nicht in der Szene sind, dich aber trotzdem unterstützen.

Was hat dir geholfen, wieder ein Stück Stabilität zu finden?

Ein Ort, an dem ich schlafen konnte, ohne Angst zu haben. Ich durfte mal bei jemandem wohnen, der selbst süchtig war. Aber ich hatte meinen eigenen Schlüssel, wurde in Ruhe gelassen. Das hat mir gezeigt: Ich kann wieder Verantwortung übernehmen. Ich hab immer wieder versucht zu arbeiten – Ein-Euro-Jobs, kleinere Sachen. Es war selten stabil, aber zumindest ein Anfang.

Welche Unterstützung hast du in deiner Zeit auf der Straße bekommen?

Am meisten geholfen hat mir die Maßnahme NEUanfang vom Jobcenter. Da haben sie sich zum ersten Mal wirklich um Menschen wie mich gekümmert – die was durchgemacht haben, aber trotzdem wieder ins Leben wollen. Ich hatte dort eine Sozialpädagogin und einen Psychologen, die mir geholfen haben, meine Altlasten aufzuarbeiten – aus der Sucht, aus der Obdachlosigkeit. Das Wichtigste war aber: Ich musste nicht ständig von vorne anfangen zu erzählen. Ich hatte über anderthalb Jahre dieselben Ansprechpersonen und konnte so Vertrauen aufbauen. Das war psychisch und seelisch eine riesige Entlastung. Was mir außerdem geholfen hat, waren Straßenarbeiter:innen wie von GANGWAY oder KARUNA. Die kommen regelmäßig vorbei, kümmern sich, fragen nach. Und natürlich: mein Freundeskreis auf der Straße. Die Community rund um den Alexanderplatz zum Beispiel – da kennt man sich, da schaut man aufeinander. Aber ehrlich? Von staatlicher Seite hat mich sonst wenig beeindruckt. Vieles, was hilft, kommt von Einzelpersonen oder Vereinen.

Was war der Wendepunkt für dich?

Der Wendepunkt kam, als ich auf dem Alexanderplatz von der Initiative Leerstand Hab-Ich-Saath angesprochen und gefragt wurde, ob ich nicht eine Wohnung haben möchte. Ich wurde – zusammen mit 60 anderen – offiziell durch das Sozialamt Mitte in leerstehende Wohnungen in der Habersaathstraße eingewiesen. Das sollte eigentlich eine ASOG-Einrichtung (Anm. d. Red. ASOG ist die Abkürzung für Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz und beschreibt die Verpflichtung der Bezirksämter zur Unterbringung wohnungsloser Menschen) werden. Anfangs fühlte sich das wie ein sicherer Neuanfang an. Doch dann sind offizielle Papiere verschwunden, vieles wurde vertuscht und mir wurde klar: Wir müssen für unser Zuhause kämpfen. So fing ich an, mich politisch zu engagieren, und lernte dabei auch querstadtein kennen – die Organisation, für die ich heute Stadtführungen gebe. Ich hatte plötzlich eine Aufgabe, einen Sinn. Und ich habe es geschafft, nach 31 Jahren ganz mit den Drogen aufzuhören.

Was sind das für die Stadtführungen, die du für querstadtein gibst?

Ich erzähle meine Geschichte – wie ich in Berlin auf der Straße gelebt hab, was das bedeutet hat: Sucht, Gewalt, keine Privatsphäre, keine Hygiene. So wie dir gerade, nur dass wir dabei Orte aufsuchen, an denen ich damals viel Zeit verbracht hab und die wichtig für mich waren. Und ich erzähle, wie ich da rausgekommen bin.

Was bedeuten dir diese Arbeit? 

Die Führungen sind für mich wie Therapie. Es hilft mir, offener zu werden, mit Menschen zu reden, ohne mich zu schämen. Und es gibt mir das Gefühl, gesehen zu werden, als Mensch. Und wenn ich dabei auch nur einen oder zwei junge Menschen erreiche, die sich dadurch vielleicht gegen Drogen oder das Leben auf der Straße entscheiden – dann hat sich das schon gelohnt.

Du hast seit Kurzem eine eigene Wohnung. Wie blickst du in die Zukunft?

Gerade kann ich mir nichts Besseres vorstellen, als das, was ich jetzt mache. Das gibt mir Halt und macht mich glücklich. querstadtein ist ein Ort, wo ich Freunde gefunden hab, wo ich ehrlich sein kann. Ich muss nichts verstecken. Die Arbeit hilft mir auch gegen meine Depressionen und die Rückfälle in diese dunklen Phasen. Ich hab Borderline, und früher waren Suizidgedanken ein ständiges Thema – das ist jetzt anders.

querstadtein e.V. – Perspektivenwechsel auf Berliner Straßen

Der Verein querstadtein organisiert Stadtführungen, bei denen ehemals obdachlose Menschen oder Geflüchtete ihre persönlichen Geschichten erzählen. Die Touren führen durch Kieze, die für die Stadtführer:innen eine besondere Bedeutung haben – Orte des Überlebens, der Ankunft oder des Neuanfangs.

Mitten im öffentlichen Raum entsteht so ein Austausch auf Augenhöhe. Die Führungen ermöglichen neue Perspektiven auf Berlin, machen soziale Ungleichheiten sichtbar und regen dazu an, vertraute Umgebungen neu zu sehen.

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